Kaptel 3
Die Rivalin
»Da ist er!«, ruft Charlotte - erstaunlich laut, wenn man bedenkt, dass sie eigentlich flüstern will. »Da ist er!« wiederholt sie entsetzt noch einmal und flitzt hinter Isabels Rücken, der mit seiner wohlgenährten Breite allerhand Schutz bietet. Da Charlotte hochgewachsen ist und Isabel in allem der deutschen Durchschnittsfrau entspricht, wirken die beiden wie ein einziges Wesen mit zwei Köpfen. Charlottes Mund befindet sich praktischerweise genau neben Isabels rechtem Ohr, also dem, mit dem sie besonders gut hören kann.
»Wie findest du sie? Die ist nicht einmal jünger als ich. Und dünn ist die auch nicht. Was soll das eigentlich für eine Frisur sein? Und wie die angezogen ist. Aber sie hat - ein sehr schönes Lächeln.« Charlotte gleitet mit einem tiefen Seufzer in die innere Informationsaufnahme.
Auf dem hohen Hocker, neben dem Ralf jetzt stehen bleibt, sitzt eine fröhlich wirkende junge Frau. Sie hat lange dunkle Haare, einen vollen roten Mund. Lippenstift? Zu blauen Jeans trägt sie einen dunkelrosa Pullover und einen roten Schal. Ein blauer Parka hängt an ihrem Hocker herunter. Sie sieht überhaupt nicht nach einer femme fatale aus. Aber eindeutig umarmt Ralf sie etwas zu herzlich, verharrt auf ihren Haaren, küsst sie auf den Kopf, auf die Stirn - nicht auf den Mund. Was ist schlimmer, fragt sich Isabel. Charlottes Kopf ruht schwer auf Isabels Schultern und Isabel schließt nicht aus, dass sie bereits ohnmächtig geworden ist. Mit vorsichtiger Anstrengung dreht sie sich zu Charlotte, umarmt sie und zieht sie in Richtung Anleger Uhlenhorst. Sobald sie vermutet, dass sie aus der Reichweite des Geschehens sind, setzt Isabel Charlotte auf eine Bank. Die hat ihre Augen wieder geöffnet und sieht ausdruckslos in Richtung Wasser. Isabel sagt nichts. Sie fragt sich, was in Charlotte vor sich gehen mag. In dem Versuch, sich in sie hinein zu versetzen, schreitet sie in Gedanken die normale Routine eines zufriedenen Ehepaares am Morgen ab: Sie wachen auf, sie teilen sich das Bad, sie frühstücken, sie geben sich einen mehr oder weniger flüchtigen Abschiedskuss und sind sicher, dass sie sich abends wieder in die Arme schließen und sich gegenseitig gelassen und interessiert die Tagesgeschehnisse erzählen werden. Alles geliebte Selbstverständlichkeiten, von denen man nicht glaubt, dass eine Kleinigkeit die Solidität des wiederholten Geschehens in ein fragiles Kartenhaus verwandeln kann. Eine jahrelange Wahrheit steht auf dem Prüfstand. Ja, denkt Isabel, Frauen sind schnell bereit, rückwirkend alles in Frage zu stellen. Sie erinnert sich an ihre erste Ehe. Hätte sie sich damals bedingungslos geliebt, wie sie es heute jeden Morgen und immer wieder tut, dann hätte sie sich möglicherweise mehr um ihren ersten Ehemann bemüht. Er hat damals ihre Anstrengungen um ihn vermisst: Du hast überhaupt nicht um mich gekämpft! Stimmt, Frauen fühlen sich so klein, dass sie kein Verhältnis mehr zu ihrer Stärke haben. Die gemeinsam verbrachten Jahre sind so etwas wie ein Guthaben oder können es zumindest sein. Und Männern muss man mit Argumenten kommen. Das hat sie in ihrem langen Leben begriffen. Eine Ehe ist ein wundervolles soziales Unternehmen und, wie Richard immer sagt, höchstens für 10 Jahre als eine Selbstverständlichkeit gedacht. Danach entscheidet sich, ob die beiden Freunde und Partner in dem ‘Unternehmen Ehe’ geworden sind. Haben sie eine Gesprächskultur entwickelt? Können sie sich gegenseitig fragen und zuhören? Merken sie, wenn der andere aus irgendeinem Grund ein Blatt im Buch seines Lebens umgeschlagen hat und wenn Kleinigkeiten das Puzzle der Persönlichkeit neu aufmischen? Von C.G. Jung hat Isabel gelernt, dass Männer am ehrlichsten sind, wenn sie sachlich argumentieren. Dann sollten Frauen aufmerksam darauf hören, was sie von ihrem Gegenüber erfahren. Frauen sind ihrer inneren Wahrheit am nächsten durch ihr Gefühl. Da Männer in diesen Gefilden eher selten zu Hause sind, haben sie nur wenige Antennen für diese Äußerungen. Aber haben Frauen inzwischen gelernt, die männlichen Argumente als das zu verstehen, was sie bedeuten? Eine Frau neigt dazu, in Übereinstimmung mit ihrem Gefühl ihr Leben gnadenlos in Frage zu stellen und bedenkt nicht, dass – wie C.G. Jung meint - ein Mann sich durch ein Treue-Versprechen hundertprozentig gebunden fühlt. Von diesem Versprechen kann ihn nur die Frau entbinden. Sein Verstand, sein Leitorgan, weiß sehr gut, wohin er gehört. Aber da ist immer auch diese verführerische innere Stimme, die sagt: Ich werde ja wohl zwei Frauen (un)glücklich machen können! Und in einer solchen Situation, denkt sie, befinden sich jetzt Charlotte und Lolita. Denn da Lolita auch eine - und sogar nette - Frau ist, erhofft sie sich natürlich auch den ganzen Ralf, ohne beziehungstechnische Hintertürchen und Schlupflöcher.
»Isabel«, sagt Charlotte müde, » ich möchte mich auflösen. Ich möchte nicht mehr da sein. Ich habe das schon einmal erlebt, in einer jahrelangen Beziehung mit meinem ersten Freund. Ich hasse es!«
Isabel streicht ihr über den Rücken, sieht sie an. Etwas Farbe ist in ihr Gesicht zurückgekehrt, die Lippen sind wieder rot und noch ist nicht eine Träne geflossen. Alles gute Zeichen.
»Versuch mal ein Lächeln!«, sagt Isabel aufmunternd. »Du weißt ja, dass Stimmung von innen kommt, aber man kann sie auch von außen nach innen herstellen. Lächle einmal wie eine überzeugende Schauspielerin.«
Der erste Versuch geht mächtig daneben, Charlotte schafft es nur mit Mühe, eine Art Karikatur auf ihr Gesicht zu zaubern. Mutig macht sie einen zweiten Versuch, und der gelingt schon deutlich überzeugender.
»Und jetzt sag einmal total überzeugt: Ich liebe mich bedingungslos!«
Charlotte lässt sich nicht lange bitten und sagt es überzeugt und lächelnd und muss dann wirklich lachen.
»Ich lüge, ich lüge!«, ruft sie fröhlich.
»Macht nichts«, sagt Isabel, »Hauptsache, das Lächeln und die Erklärung sind erst gedacht und dann als Ausdruck und gesprochenes Wort ein bisschen mehr Wirklichkeit geworden. Beides steht dir schon ‘mal bei. »
Charlotte lacht jetzt tatsächlich amüsiert: »Jetzt fehlt nur noch dein Satz: Jedes Problem ist ein Geschenk, man muss es nur zu deuten wissen!«
Isabel ist begeistert: »Stimmt, du hast Recht. Das hatte ich im Moment selbst ganz vergessen. Und du hast daran gedacht. Ja, genau so ist es. Aber brauchst du nicht noch Zeit? Wo befindest du dich denn gedanklich?«
»Ich gebe ihn nicht her. Ich merke mit Schrecken, wie gern ich ihn mag und wie schön mein Leben mit ihm ist. Ich will jetzt wirklich alles richtig machen - wenn das überhaupt geht. Was kann ich tun?«
»Du hast mehrere Möglichkeiten: Erstens könnten wir zurück zur Alsterperle gehen und sehen, ob die beiden dort noch sitzen. Vielleicht ist ja - entgegen allem Anschein – alles ganz harmlos. Zweitens könntest du nach Hause gehen und bis abends auf ihn warten. Drittens könntest du ins Büro gehen und ihm sein Handy bringen. Abends könntest du ihm gestehen, dass du einige von Lolitas SMS gelesen hast und hören, was er dazu sagt. Viertens kannst du ihm den ganzen Vorgang, von seinem Anruf bei dir bis zu seinem Treffen mit Lolita in der Alsterperle, berichten, ihn dann aber nicht zur Rede stellen, sondern eindeutig sagen, was du möchtest: Ihn ganz für dich und Lolita nicht mehr sehen. Fünftens könntest du ...«
»Aber offensichtlich arbeiten sie auch zusammen. Das ist doch schwierig, oder?«
»Wieso, das ist ein Vorteil in dieser Welt ohne Geld: Finanzielle Nachteile zählen nicht mehr. Er muss nur ein neues Betätigungsfeld finden oder eines gründen. Was für ein Büro ist das denn?«
»Das Umwelthaus Uhlenhorst. Sie koordinieren und unterrichten den Bau von Sonnenkollektoren!«
Isabel tippt sich gegen die Stirn: »Ach so, ich wusste nicht, wie ich sie beruflich verorten sollte. Aber das macht Sinn, sie ist Ingenieurin! Ingenieurinnen setzen sich ja oft als besonders interessant gegen andere Frauen ab.«
»Soll ich sie jetzt toll finden?« Charlotte sieht Isabel befremdet an.
»Nein, nein, sollst du nicht.«
»Wird er das nicht weit von sich weisen, wenn ich ihn bitte, seinen Kontakt zu ihr total abzubrechen? Einen neuen Platz zum Arbeiten zu suchen?«
»Ich glaube nicht«, sagt Isabel munter. »Es gibt doch unzählige kleine Initiativen. Das ist doch das Schöne an regionaler Arbeit: Jetzt machen viele kleine Gruppen ihr Ding, wo früher nur eine große Firma andere für sich arbeiten ließ, das Geld kassierte und es an der Steuer vorbei in die Schweiz transferierte.«
»Und was mache ich nun?« Charlotte könnte eine erneute Ermunterung zum Lächeln gebrauchen.
»Warte ab, was sich in dir nach vorne drängt. Du hast deinen freien Willen und über die positive Seite von ganz neuen Möglichkeiten, die dir eine Trennung bescheren würde, haben wir noch gar nicht gesprochen. Du kannst zum Beispiel in einem Tagebuch alle Lösungen einmal durchspielen.«
»Also, den ersten Weg lasse ich ausfallen: Ralf liebt kein Drama auf offener Straße. Lass sie da ihren Kaffee trinken und ihr Sandwich essen.«
»Das hört sich gut an, du handelst nicht panisch. Glückwunsch! Und ich muss jetzt nach Hause, weil meine Sprachenschüler gleich kommen.«
Charlotte ist aufgestanden, beugt sich zu Isabel hinunter und gibt ihr zwei Luftküsse:
»Da hat sich bei dir gar nichts geändert, oder? Ich danke dir, du Liebe! Was hätte ich bloß ohne dich gemacht. Du warst heute mein Engel! Wir sehen uns morgen früh bei Heinrich, okay? Ich bringe die Brötchen mit.«