...
»Was für eine Mutter hast du dir denn gewünscht?«
Evelyn sieht hinter sich und fragt irritiert: »Meinst du mich?«
Isabel lacht. »Also sehen kann ich hier niemanden mehr, obwohl ich inzwischen weiß, dass wir nie allein sind, weil ja auf jeden Fall jeder Mensch stets von seinen spirituellen Begleitern umgeben ist.«
»Du hast mich also gefragt, was für eine Art von Mutter ich mir gewünscht habe, ja?«
»Genau«, sagt Isabel und sieht Evelyn an. Es ist eine ganze Weile sehr still.
»So auf Anhieb fällt es mir schwer, meine Mutter unter dem Blickwinkel eines Wunsches von mir zu sehen.«
»Dann gehen wir langsam vor: Spielt sie in deinem Leben eine große Rolle?«
»Und wie, mehr als ich möchte. Weißt du, es geht ihr nicht so gut und sie fühlt sich immer allein und findet, dass ich mich nicht genug um sie kümmere. Vermutlich hat sie recht.«
»Wie alt bist du?«
»42.«
»Und wie alt ist deine Mutter?«
»67.«
»Warum geht es ihr nicht gut?«
»Ach, sie hat jeden Tag etwas Neues. Und immer ein bisschen schlimmer und ständig rennt sie zum Arzt. Ehrlich gesagt, ich fühle mich unendlich genervt. Und immer ruft sie mich an und erspart mir kein Wort vom letzten Arztbesuch und lässt mich bis in die letzten Winkel an jedem Gedanken teilhaben. Nerv, Nerv, Nerv!«
»Was glaubst du, was du in so einer Situation lernen könntest, um dein Leben angenehmer zu machen.«
»Ja, ich müsste ihr sagen, dass mich das alles nicht interessiert, dass sie sich freuen kann, dass sie keine finanziellen Probleme hat und dass sie sich selbst nicht so ernst nehmen und sich mal um andere Leute kümmern soll.«
Isabel unterbricht sie: »Dass dich das alles nicht interessiert, das kannst du genauso sagen. Aber was SIE besser fühlen und machen sollte – du hast gesagt, sie solle sich nicht so ernst nehmen und mehr um andere Leute kümmern – das solltest du ihr überlassen, denn das greift in ihren freien Willen ein. Jeder bestimmt über sich, du bestimmst über dich, sie über sich.«
Evelyn sieht gepeinigt aus. »Ja, das würde ich ihr ja nur zu gern sagen, aber das geht doch nicht, ihr geht es doch schon so schlecht!«
»Das gibt ihr ja nicht das Recht, dich ebenfalls in diesen Zustand zu bringen. Alle Menschen sind gleich stark. In dem Augenblick, in dem du sagst, dass du ein durch dein Gefühl begründetes Argument nicht vorbringen kannst, weil du es dem anderen nicht zumuten
kannst – in diesem Moment machst du ihn schwächer als dich. Du siehst auf ihn herab und dadurch schwächst du ihn. Wir leben auch alle von der Stärke, die die anderen in uns sehen und uns zutrauen.
Jeder gute Gedanke macht den Bedachten besser, stärker, kräftiger. Dass dich ihr ausgeschmücktes Gejammer nicht interessiert und du es nicht mehr hören möchtest, das kannst du ihr aber gerne sagen.«
»Ich denke oft, dass sie ja schon ganz schön alt ist und ich mich ja nur – entschuldige bitte – bis zu ihrem Tod damit auseinandersetzen muss.«
Isabel lächelt. »Oh, denk nicht, dass eine Mutter nach ihrem Tod einfacher wird. Die Aufgabe, die du ihr aufgetragen hast, die nimmt sie auch noch als Geist wahr. Du hast sie gebeten, so zu sein, wie sie ist, weil du lernen wolltest, gegen eine klagende, Mitleid erheischende Mutter ein eigenständiges, glückliches Leben durchzusetzen. Und das steht total in Übereinstimmung mit dem freien Willen. Du darfst spirituell gesehen ganz und gar frei wählen; jenseits des Schleiers wird dir das niemals negativ angekreidet. Niemand darf sich auf die Lebensfreude eines anderen Menschen setzen!«
»Und dann? Was macht sie dann?« fragt Evelyn wie eine besorgte Mutter.
»Kann sein, dass sie dann mit diesem Verhalten sofort aufhören kann, weil du gelernt hast, ihre Krankheiten und Leiden und ihre Einsamkeit nicht mehr auf deine Schultern zu nehmen. Vielleicht startet sie dann ganz anders durch. Du hast ja gesagt, dass sie keine finanziellen Probleme hat. Wer weiß, vielleicht kommst du irgendwann wieder zu mir, weil du nicht begreifst, was du daran lernen willst, dass deine Mutter mit einem späten Hippy liiert ist und in einer Strohhütte in Goa am Strand lebt.«
»Du meinst also, dass sie sich ändern kann, wenn ich anders zu ihr bin.«
»Davon gehe ich aus«, sagt Isabel überzeugt. ...
»Jedes Problem, das wir nicht im Sinne unserer eigenen Kraft gelöst haben, das holen wir uns ein weiteres Mal auf unsere Lebensbühne, und jedes Mal ein bisschen nachdrücklicher.«
Evelyn unterbricht sie: »Ja, auf meine Mutter trifft das total zu. Sie wird immer klagender, die Wehwehchen nehmen zu und mit ihren früheren Bekannten trifft sie sich auch immer seltener. Und nach jedem Gespräch und Besuch wächst meine Panik.«
»Hole sie auf Augenhöhe und sag ihr, was du alles nicht mehr aushältst. Auch wenn es ungeschickt und zu krass herauskommt.
Wenn du dich in so vielen Jahren nicht gewehrt hast, dann fehlt dir mit Sicherheit eine elegante Art des Ausstiegs. Das ist auch nicht schlimm, denn dann sieht deine Mutter auch deine Hilflosigkeit und merkt, dass du längst nicht so überlegen und stark bist, wie du dich offensichtlich immer gibst.«
»Mensch,« Evelyn sieht aus, als hätte sie die gefürchtete Auseinandersetzung schon hinter sich. Ihr Gesicht sieht ganz durchlüftet aus, leicht und frisch.
»Das finde ich toll! Aber was soll ich sagen, wie soll ich es sagen. Ich bin da etwas hilflos.«
»Wenn du willst, spielen wir das mal durch. Ich bin deine Mutter und du sagst mir deine ungeschminkte Meinung. Komm, wir gehen auf eine realistischere Spielfläche.«
Isabel setzt sich auf ihr Sofa, streift die Schuhe ab, legt die Beine hoch, zieht die Decke von der Sofalehne über ihre Beine und setzt das leidende Gesicht einer Mutter auf.
»Ich kann nicht«, flüstert Evelyn entsetzt. »Isabel, ich kann nicht.«
»Wer ist Isabel? Hast du schon wieder jemanden kennengelernt. Na, du hast es ja gut. Und was kannst du nicht? Mich besuchen kannst du nicht. Ja, so ist es. Da bringt man ein Kind zur Welt und zieht es unter Opfern groß, und wenn man es dann selber hin und wieder braucht, dann kann es nicht. Ja, ja, du erzählst mir nichts Neues.«
»Mutti, hör jetzt mal auf mit dem Klagen.«
»Dem Klagen? Hach, wenn ich überhaupt mal klagen dürfte und mir irgendeine freundliche Seele zuhören würde, das wäre ja schön. Ich klage nicht, ich erzähle nur Fakten. Ganz sachlich.«
»Ich will dir mal etwas sagen. Ich habe keine Lust mehr auf deine negativen Äußerungen. Ich habe so was von keiner Lust mehr darauf. Ich habe die Nase voll. Sobald ich anrufe oder dich besuche, bekomme ich nichts als Klagen und Vorwürfe zu hören. Damit ist von meiner Seite jetzt Schluss. Du hast Geld genug, such dir jemanden, der dir zuhört und dafür Geld bekommt.«
»Wenn du Geld brauchst, dann sag es doch. Ich kann dir gern etwas geben. Mir ist so schlecht, könntest du mir ein Glas Wasser holen?«
»Nein!«
»Was? Nein? Das würde jede Fremde für mich tun ... Oh, diese Undankbarkeit!«
Isabel wischt sich als Mutter-Darstellerin die eingebildeten Tränen aus den Augen.
»Ja, das glaube ich. Fremde haben auch nicht diese Leidensgeschichte hinter sich wie ich. Ich sage dir hiermit klipp und klar: Ich komme erst wieder und rufe erst wieder regelmäßig bei dir an, wenn ich merke, dass du mir positive Erlebnisse »Was ich will. Verstehst du? Was ich will. Genau das mache ich.«
Isabel wirft die Decke zurück und schlüpft in ihre Schuhe.
»Wunderbar! Du warst wunderbar! Total überzeugend! Da bleiben keine Wünsche offen.«
Evelyn fängt an zu lachen. Sie lacht und lacht. Isabel hilft ihr beim Lachen. Es ist ansteckend. So befreiend ist es. Schließlich nimmt Evelyn ein Taschentuch aus Ihrer Handtasche und wischt sich Tränen weg.
»So«, sagt Isabel, »jetzt bist DU deine Mutter und ich bin du. Wo willst du sie spielen?«
»Ich sehe aus dem Fenster oder aus der Terrassentür und wende dir den Rücken zu. Wir können anfangen.«